Schwanger mit Essstörung
Liz hält den Atem an: Sie kann es kaum glauben. Da ist er! Der kleine blaue Punkt auf dem Teststreifen in ihrer Hand. Unverkennbar! Sie ist schwanger. Ein Tag, auf den sie lange hingefiebert hat. Sie hat ihn in Gedanken immer wieder durchgespielt. Nun wird alles anders! Liz kann es noch nicht glauben. Ob es wirklich stimmt? ....
Sie hat damit gerechnet, dass sie sich unbändig freuen würde. Innerlich jubeln. Ein Gefühl von Leichtigkeit und Beschwingtheit, das sie ab sofort den ganzen Tag über begleiten wird. Jeden Tag, die ganze Schwangerschaft hindurch. Das war der Plan. Nun sitzt sie da, mit dem Schwangerschaftstest in der Hand. Es ist einfach nur ein normaler Mittwoch. Das Wetter ist grau, und die Jeans sitzt irgendwie schon nicht mehr richtig gut. Ihre Stimmung würde Liz im Fitness-Tracker heute nur mit mittelmäßig einstufen. Ihre körperliche Form lässt zu wünschen übrig. Drei Kilo über ihrem persönlichen Traum-Gewicht. Liz kennt ihren Körper, ihre Schokoladenseiten und die Stellen, die nicht die ideale Form haben. Eine Anorexie hat sie laut Body-Mass-Index eigentlich schon immer. Ihre persönliche Definition von Idealgewicht ist eine andere. Sie weiß, da geht noch was. Eigentlich wollte Liz sich jetzt so richtig in Sommerform bringen. Die Mitgliedschaft im Fitnessclub hat sie erst vor einigen Wochen aktiviert. Beim morgendlichen Aufstehen ein leichtes Ziehen als Zeichen für das effektive Training zu spüren, das macht ihr gute Laune. In den letzten Tagen hat es anders gezogen in ihrem Bauch, und jetzt weiß sie, warum. Ob sie nun noch richtig trainieren kann? Die Vorstellung, aufhören zu müssen, macht sie unruhig. Der Gedanke an eine schlecht sitzende Jeans in einer größeren Größe – unvorstellbar. Sie braucht die Kontrolle, möchte schlank bleiben. Das ist keine Frage, das ist eine Tatsache. Sie hat einen eisernen Willen. Sie schafft immer, was sie sich vornimmt. Und nun ist sie schwanger. Die Zeit läuft.
Schwanger trotz Essstörung
Liz ist eine frei erfundene Person, und doch stellvertretend für viele werdende Mamas, die ich in meiner psychologischen Praxis berate. Sie hat alles richtig gemacht: Sie ist einer Sehnsucht gefolgt. Wollte schwanger werden, ist auf volles Risiko gegangen. War entschieden, hat sich entschieden. Vielleicht gab es da eine leise innere Stimme, die ihr zugeflüstert hat, dass es doch nicht klappen würde. Oder dass es noch lange dauern könnte mit dem Schwangerwerden. Und sie deshalb am besten schnell sein sollte, damit sie keine unnötige Zeit verliert. Keine Zeit für Zweifel, weil es eben keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Weil es wegen ihrer Essstörung ohnehin unklar war, ob sie jemals schwanger werden würde. Das hat die Sehnsucht umso größer werden lassen. Der Wunsch nach einer eigenen Familie, nach der Liebe zu einem Baby unter ihrem Herzen. Viele Phantasien um eine rosige Zukunft hat Liz in den vergangenen Monaten entwickelt. Manche davon sind nur vage geblieben. Gut angefühlt haben sie sich alle. Sonst hätte sie doch niemals alles auf eine Karte gesetzt. Oder?
Vielleicht hat Liz ihre Ängste und Zweifel vorher nicht richtig anschauen können. Nun sind sie da. Lassen sich nicht mehr wegschieben. Hartnäckig wie die Kalkablagerungen in der Duschkabine, die sich trotz gründlichen Schrubbens nicht beseitigen lassen. Während des Putzens, ja da sieht es dann besser aus. Aber sobald die letzte Feuchtigkeit verschwunden ist, ist er wieder da, der trübe Schleier, der die Dusche alt und hässlich aussehen lässt. So ähnlich geht es Liz jetzt. Sie fühlt sich unattraktiv. Möchte gern alles tun, was sie sonst getan hat, um sich besser zu fühlen. Um ihr inneres Gefühl von Schönsein zu aktivieren. Und kann es nicht, weil ihr Körper sie nicht lässt. Sobald sie sich anstrengt, wird ihr übel. Sie ist gezwungen, sich hinzulegen. Sie ist gezwungen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht tun würde. Jetzt ist sie schwanger, noch weiß es niemand. Niemand sieht es, alles sieht aus wie immer. Und doch ist alles anders. Liz hat einen Kloß im Hals. Ich ermutige sie, auszusprechen, was der Kloß sagen würde, wenn er könnte. „Das habe ich mir anders vorgestellt.“ Ein innerer Satz, der schwer zu denken ist und sich doch richtig anfühlt, weil er beschreibt, wie es in ihr aussieht. Wie sie aus dieser Situation wieder rauskommt? Liz weiß es nicht. Nur, dass es so nicht bleiben soll. Sie möchte doch ihrem Kind einen guten Start bieten. Und auch wenn sie zu sich selbst hart ist und sich nur das Nötigste gönnt: Ihr Baby soll gesund sein. Das ist sie ihm schuldig.
Bis hierhin -und wie weiter?
Wie wird die Geschichte von Liz weitergehen? Vielleicht wird sie in den kommenden Wochen durch regelmäßigere Mahlzeiten ein anderes Gefühl von innerer Ruhe kennenlernen. Gut möglich, dass ihr ungeborenes Kind ihr dabei wie ein innerer Coach zur Seite steht. Die Frage danach, was jetzt für ihr Kind gut wäre, könnte für Liz eine neue Richtschnur werden. Manchen Frauen fällt es mit dieser anderen Perspektive leichter, neue Gewohnheiten zu etablieren. Dass Liz dabei das Gefühl von Kontrolle behalten möchte, ist auch aus psychologischer Sicht sinnvoll und gut. Denn eine Schwangerschaft zu erleben ist das krasse Gegenteil dazu: Alles ändert sich, das Gefühl des Fremdbestimmtseins dominiert. Eine Grenzerfahrung, für die Frauen Stabilität und Halt benötigen, um sie gut zu bewältigen. Alles was Liz nun von Innen stärkt, bietet Chancen. Im besten Fall wird die Schwangerschaft damit zu einer positiven Erfahrung. Durch die psychologische Begleitung kann sie das, was da an Ängsten aktiviert wird, anschauen und bearbeiten. Immer so viel, wie sie gerade anzuschauen bereit ist. Auch das kann eine neue Erfahrung für Liz werden: Dass sie bestimmt, was sie von sich mitteilt. In den Gesprächen mit mir behält sie die Kontrolle und öffnet sich nur so weit, wie es sich für sie richtig und gut anfühlt.