Notbetreuung in der Kita
In diesen Wochen des Jahres steigt die Zahl von besonders gefürchteten Telefonanrufen. Diese Anrufe kommen nicht von irgendeinem Callcenter, nicht vom städtischen Energieversorger und auch nicht von Deiner Hausbank. Sie kommen von der Kita oder der Großtagespflege, in der Dein Kind betreut wird. Und nein, es ist nicht die Art von Anrufen gemeint, in der Dir mitgeteilt wird, dass Dein Kind erhöhte Temperatur hat....
„Es tut mir leid, wir sind heute dünn besetzt… Können Sie Ihr Kind heute früher abholen?“ Mal ehrlich, diese Frage ist fast noch schlimmer als die Botschaft, dass Dein Kleines fiebert. Denn in dem Fall wäre klar, was Du zu tun hast. Aber nun bist Du mittendrin in einem fiesen Dilemma.
Noch bevor Du überhaupt in der Lage bist, die Tragweite Deiner Antwort zu erfassen, hörst Du Dich, wie Du Ja sagst. Vielleicht sagst Du sogar „Ja klar!“ oder „Ja, das verstehe ich gut.“ Du schluckst Deine Enttäuschung tapfer runter, Deinen Frust, das Gefühl von Hilflosigkeit. Du spürst den Kloß im Hals, oder Dir kommen die Tränen. Der Impuls, das unangenehme Gefühl loszuwerden, lässt Dich verstummen. Fast fluchtartig beendest Du das Telefonat. Und dann?
Dein Kind ist keine Paket-Retoure!
Ja, Du hast ganz richtig gelesen! Den Vergleich mit der Retoure habe ich bewusst gewählt. Natürlich ist Dir das klar. Dein Kind ist ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, es ist kein Gegenstand. Und kein Kind der Welt ist mit so etwas Profanem wie einer Paket-Retoure zu vergleichen!
Doch was geschieht, wenn du mit dem Kloß im Hals und dem Frust im Bauch zur Kita unterwegs bist, um Dein Kind vorzeitig abzuholen, weil dort Personalmangel herrscht? Wenn Du innerlich noch auf dem Nein herumkaust, das Du am Telefon nicht äußern konntest, wird es schwer werden, Dich auf die Zeit mit Deinem Kind einzulassen. Du brauchst Raum für Deine Gefühle. Auch wenn Du die Personalknappheit der Kinderbetreuung nicht verantwortest – es ist Deine Verantwortung, Dich um Deine Gefühle zu kümmern!
Notbetreuung in der Kita – Notfall für Eltern
Die Gefühle, die Du in diesen ersten Sekunden am Telefon nur vage erfassen konntest, bleiben Dir im Hals stecken. Oder sie brechen mit zeitlichem Abstand aus Dir heraus. Möglicherweise fühlst Du Dich von ihnen komplett überschwemmt, so als ob Dir jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt hat. Es kann aber auch sein, dass die Gefühle nicht im Vordergrund stehen, sondern eher innere Sätze auftauchen:
- „Ich würde ja eigentlich gern heute noch an dem Projekt weiterarbeiten/an dem Meeting teilnehmen/nicht schon wieder Minusstunden aufbauen…
Aber: Darf ich das – mein Kind in der Kita lassen, auch wenn ich im Home Office arbeite/einen verständnisvollen Chef habe/das Meeting absagen könnte?“ - „Was denken die Erzieherinnen und Erzieher von mir, wenn ich jetzt Nein sage?“
- „Was, wenn mein Kind schlechter behandelt wird, weil ich es nicht früher abgeholt habe?“
Schlechtes Gewissen als schlechter Ratgeber
Diese inneren Sätze haben eines gemeinsam: Sie verursachen Dir (weitere) unangenehme Gefühle. Und sie sind ein Ausdruck von unangenehmen Gefühlen, gewissermaßen das Symptom dafür, dass es Dir gerade schlecht geht. Dein Gehirn produziert negative Gedanken, in dem Bemühen, die belastende Situation zu verarbeiten. Nicht sehr effizient. Gar nicht schön. Aber es ist eine (unbewusste) Strategie, die Dir zur Verfügung steht. In Momenten, in denen wir uns handlungsunfähig fühlen, greifen wir oft auf Strategien zurück, die wir früher im Leben erlernt haben. Das Prinzip dieses erlernten Musters: Du gehst in die Verantwortung, so als ob Du selbst diese belastende Situation verursacht hättest. Und dann machst Du Dich selbst fertig, so als ob es an Dir läge. Dabei kannst Du nichts für die Personalsituation in der Kita! Leider helfen Dir diese inneren Sätze auch nicht dabei, wirklich kreativ zu werden und nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten, wie Du den weiteren Tagesverlauf auch ohne Kita-Betreuung regeln könntest.
Muster unterbrechen
Wenn Du das Verhaltensmuster von Dir kennst, ohne groß nachzudenken Ja zu sagen und Dich hinterher schlecht zu fühlen, ist es Deine Chance, das Muster jetzt zu unterbrechen. Das geht nicht von heute auf morgen. Schließlich ist diese automatisierte Reaktion über eine längere Zeit hinweg entstanden. Doch der Anfang ist gemacht, wenn Du verstehst, dass Du auf Dein Verhalten einen Einfluss nehmen kannst. Das reflexartige Ja, das Herunterschlucken Deiner Bedenken kannst Du verändern! Hier kommt eine Anregung für Dich, wie das gelingen kann.
Räume Dir Bedenkzeit ein
Bevor das automatisierte Ja über Deine Lippen kommt, atme bewusst ein und aus (am besten zählst Du innerlich bis fünf), und erinnere Dich daran: Du hast das Recht, über die Situation nachzudenken, bevor Du antwortest. Du darfst Dir dazu auch eine Bedenkzeit erbitten, bevor Du eine Antwort gibst. Wirkungsvoll und hilfreich ist es zum Beispiel, wenn Du sagst: „Das ist keine einfache Situation für uns alle. Ich brauche ein paar Minuten, um die Situation für mich zu klären und ein paar Dinge zu regeln. Ich rufe Sie in 10 Minuten zurück. Ist das okay für Sie?“
Was bringt dir das? Du gewinnst einen Moment des inneren Abstands, der wichtig ist, um zu klären, welche Handlungsmöglichkeiten Du hast. Ist Ja-Sagen und zur Kita fahren die einzige Option für Dich? Bevor Du entscheidest, kannst Du…
- mit Deinem Team bzw. den Kollegen abstimmen, welche Aufgabe heute noch warten kann und wie es sich für Eure Arbeit auswirkt, wenn Du jetzt etwas zeitlich zurückstellst
- Deine/n Partner*in anrufen und mit ihm/ihr besprechen, wie die aktuelle Situation aussieht
- eine andere Betreuungsperson, die Deinem Kind vertraut ist, anrufen und fragen, ob sie Zeit hat, Dein Kind abzuholen und nach Hause zu bringen
- mit einer anderen Kita-Mama bzw. einem Kita-Papa ein Tandem bilden, das für solche „Notfall-Tage“ jeweils im Wechsel das andere Kind mitnimmt
Das innere Drehbuch ändern
Bereite Dich vor. Der nächste Anruf von der Kita wird früher oder später kommen. Lege Dir eine Regieanweisung für Dich selbst zurecht, die Du Dir zur Hand nehmen kannst, wenn es so weit ist. Schreibe Dir auf, wie Du gern antworten möchtest. Formuliere konkrete Sätze, die sich für Dich selbst stimmig anhören und anfühlen (!). Wenn Du möchtest, übe die Sätze zusammen mit Deinem/r Partner*in, mit einer guten Freundin oder einem professionellen Coach ein. Notiere schriftlich, was Du sagen willst. Eine Notiz auf Deinem Handy ist praktisch, weil Du sie jederzeit und von jedem Ort aus abrufen kannst, sobald der Anruf eingeht. Eine Mama in einem meiner Coachings hatte die Idee, den Satz „Ich muss darüber nachdenken!“ sogar im Kontaktfeld des Handy-Telefonbuchs abzuspeichern. Damit wird sie jetzt sofort erinnert, wenn es klingelt, und kann sich innerlich auf das ausrichten, was ihr wichtig ist.
Nimm Dir Zeit für Deine Gefühle
Wenn Deine Entscheidung gefallen ist und Du Dein Kind an diesem Tag selbst früher abholst, schau dass Du Dir vorher noch etwas Gutes tust. Dafür ist jetzt keine Zeit? Gerade jetzt ist es besonders wichtig!
- Wenn Dir die Tränen kommen, dann lass sie raus.
- Vielleicht tut es gut, eine Person, die Dir nahesteht, anzurufen?
- Du kannst eine Sprachnachricht an jemanden verschicken, der nachvollziehen kann, wie es Dir gerade geht, und Dich auf diese Weise mitteilen.
- Wenn Du Ärger und Anspannung fühlst, dann nutze körperliche Bewegung, um Druck abzulassen. Du kannst mit beiden Beinen auf dem Boden stampfen oder kräftig in die Pedalen Deines Fahrrades treten.
- Lass das Auto möglichst stehen und nutze den Weg zur Kita für einen Spaziergang.
- Es gibt einen Song, den Du besonders gern magst? Kopfhörer auf, Ton an. Und wenn Du kannst, sing laut mit!
Übrigens, es gibt keinen Grund, hektisch zu werden! In der Kita ist kein Feuer ausgebrochen, und Dein Kind ist gesund und wohlauf. Es mögen vielleicht ein paar Minuten länger sein, die Du unterwegs bist, doch diese Zeit ist gut investiert. Schließlich holst Du gleich einen kostbaren Schatz ab – und keine Paket-Retoure.
Ein Wort zum Schluss
Bevor es zu Missverständnissen kommt: Es ist ein unbestrittenes Drama, dass die Betreuungssituation in den deutschen Kitas so angespannt ist. Die pädagogischen Fachkräfte, die Tageseltern und Erzieher*innen tun ihr Bestes. Es ist für niemanden angenehm, Eltern darum bitten zu müssen, das eigene Kind früher abzuholen. Mein Anliegen ist es nicht, Mütter wie Dich dazu anzustacheln, den Kita-Mitarbeiter*innen das Leben (noch) schwerer zu machen. Damit wäre niemandem geholfen, vor allem nicht den zu betreuenden Kindern. Meine Mission ist es, Dich als Mama zu empowern, Deinen Gefühlen eine Stimme zu geben. Du hast ein Recht auf Deine Gefühle, und Du hast das Recht zu sagen, was Du brauchst. Wenn Du Deine Gefühle wichtig nimmst, änderst Du damit nichts am Personalmangel in der Kita. Du änderst damit Dein Leben.