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"Ich müsste einfach konsequenter sein!"

01. August 2023

„Wenn meine Tochter wütend wird, dann sehe ich Rot: Ich höre sie schreien, ich sehe ihr verzerrtes kleines Wutgesicht vor mir. Und dann ist da dieses surreale Gefühl, dass sie nur deswegen schreit, damit ich aufgebe. Damit alle sehen und hören: Meine Mama ist total unfähig! Und dann drohe ich ihr Dinge an, die ich so niemals tun würde...

Dass ich sie nicht mehr abholen werde aus dem Kindergarten. Dass ich wegfahre und nicht mehr zurückkomme. Hinterher schäme ich mich für jedes einzelne Wort. Ich liebe mein Kind so sehr. Wieso benehme ich mich dann wie ein Monster? Ich müsste viel konsequenter im Umgang mit meinem Kind sein, dann wäre alles besser. Warum kann ich nicht einfach konsequenter sein?“

Das Leben mit Kind fordert uns heraus. Nicht in den Situationen, in denen es gerade easy-peasy ist, sondern wenn es anders läuft als geplant. Wenn die Wellen hochschlagen, wenn es laut, chaotisch und emotional wird. Kennst Du das?

Fehlende Kontrolle und hoher Anspruch

Meine Erfahrung als Coach für Mütter (und als Mama eines sehr temperamentvollen Kindes!) ist die: Gerade wenn Du als Mutter einen besonders hohen Anspruch an Dich selbst hast, kann es Dir passieren, dass Du in diese herausfordernden Situationen hineingerätst. Dass Dir die Kontrolle entgleitet. Dass Du Dich ausgeliefert fühlst: Deinem Kind und Deinen eigenen Gefühlen. Das zu erleben ist furchtbar schmerzhaft. Ein Weltuntergang ist es trotzdem nicht!

Was brauchst Du, um Dich in diesen Momenten aus dem Film rauszuholen, der da wie automatisch abläuft? Schauen wir erstmal auf die Reaktion, die Du bisher üblicherweise entwickelt hast. Du bist mit Deiner Aufmerksamkeit und Energie voll auf Dein Kind konzentriert. Du versuchst nach Kräften, seinen Frust abzuwehren. Egal, ob Du dabei laut wirst oder es schaffst, in Zimmerlautstärke zu sprechen: Es ist ein Unterfangen, das wenig Aussicht auf Erfolg hat. Denn auch wenn Du Dir alle Mühe gibst, Du hast etwas ganz Wesentliches vergessen. Du schaust nicht auf DICH! Was Du eigentlich ausschalten möchtest, ist das Gefühl, dass die Wut Deines Kindes in Dir selbst triggert. Vielleicht ist es das Gefühl der Scham, das Dir da sehr zu schaffen macht? Oder es ist eher das Gefühl, hilflos und ohnmächtig zu sein? Oder ein massives Ungerechtigkeits-Empfinden, frei nach dem Motto: „Ich tue alles für Dich, mein Kind, und dann bist Du so wütend auf mich?!“

Emotionen regulieren braucht Übung

Was auch immer es ist, was Du fühlst: Es ist wirklich sehr belastend und unangenehm. Du handelst also verständlicherweise so, wie Du es tust. Du setzt Dich zur Wehr, um Deine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Klingt logisch, nicht wahr? Wenn Du an dieser Stelle innerlich mit dem Kopf nickst, dann darfst Du Dich freuen: Es ist nämlich DIE zentrale Erkenntnis, die den ersten Schritt zur Auflösung der Situation möglich macht. Auch wenn es übertrieben positiv klingt und Dich jetzt vielleicht skeptisch werden lässt. Ich meine das wirklich so!

„Und was soll ich dann tun? Was kann ich denn stattdessen machen? Ich habe doch schon alles Mögliche ausprobiert!“ Ja, ich weiß. Du hast viel investiert, Zeit, Energie, Nerven. Du hast bestimmt schon einiges an Ratgebern gelesen und Dr. Google befragt. Warte noch einen Moment! Bevor wir gemeinsam auf die Suche nach hilfreichen Strategien gehen, schauen wir uns vorher noch eine zweite Sache an, die ebenfalls wichtig ist zu verstehen. Es kann sein, dass diese zweite Sache Dich ärgerlich macht, weil Du bisher vom Gegenteil überzeugt warst. Bist Du bereit für diese zweite Erkenntnis? Dann lies bitte weiter.

Die zweite Sache

Du zweite wichtige Erkenntnis auf dem Weg in einen entspannteren Umgang für Dich als Mama ist die: Dein Kind meint es NICHT böse! Es hat nicht im Sinn, Dich vorzuführen oder zu blamieren. Egal was andere Dir dazu sagen, auch wenn die (Schwieger-)Eltern oder die Nachbarin den Kopf schütteln und sein Verhalten kritisch kommentieren. Dein Kind ist  – genau wie Du auch manchmal! – noch nicht in der Lage, seine starken Gefühle innerlich herunterzuregeln (in der Fachsprache sprechen wir Psychologen auch vom „Regulieren“ der Gefühle). Die sogenannte Selbstregulation von Emotionen ist eine Fähigkeit, die wir nicht automatisch von Geburt an haben. Wir lernen das erst, Schritt für Schritt. Und um das zu lernen, brauchen wir etwas: Ein verständnisvolles Gegenüber. Für Dein Kind bist Du eine wichtige Person, die ein solches Gegenüber sein kann.

Auf der inneren Leinwand

Genau an dieser Stelle hast Du die Möglichkeit, neu anzusetzen. Wenn Du euch beiden wie in einem Film zusehen würdest, Deinem Kind und Dir, was siehst Du? Nimm Dir bitte einen Moment Zeit, lehne Dich in Gedanken zurück und mach es Dir in Deinem Kino-Sessel bequem. Du darfst jetzt mit Abstand auf Euch beide blicken. Es gibt nichts weiter zu tun. Lass auf Dich wirken, was Du siehst. Vielleicht möchtest Du es Dir gemütlich machen, die Füße hochlegen und Dich so richtig bequem einkuscheln? Einverstanden! Mach es Dir so angenehm wie möglich, bevor Du wieder auf die Leinwand schaust. Was erkennst Du dort? Kannst Du ein Kind sehen, das von seinen starken Gefühlen überwältigt ist? Und eine Mama, die alles richtig machen möchte und dabei auf eine Strategie zurückgreift, die eigentlich etwas Positives bewirken soll? Kannst Du erkennen, wie viel Mühe die Frau sich gibt? Und in welcher inneren Not sie ist? Die Mama kann Verständnis und einen liebevollen Blick gebrauchen. Und sie braucht dringend schallisolierende Kopfhörer und eine 3-D-Virtual-Reality-Brille, die ihr hilft, sich aus der Situation wegzubeamen. Einfach auf Knopfdruck inneren Abstand haben zu dem kleinen Wut-Zwerg, der da vor ihr steht und schreit. Zeit zum Durchatmen und Runterkommen. Doch wo ist diese verflixte Brille?

Inneren Abstand gewinnen

Die Brille als Tür in eine bessere Welt, ohne Ärger und Tränen – das wäre ein Traum! Weil es sie (noch?) nicht gibt, diese Wunder-Brille, lass uns gemeinsam überlegen, welche Möglichkeit die Mama in Deinem Kopfkino nutzen könnte, um Ruhe zu finden. Sie kann dem Kind sagen, dass Sie eine Pause braucht. Sie kann den Raum verlassen. Vielleicht hilft ihr das, sich selbst wieder besser zu spüren. Viele Mamas erzählen mir, dass sie weinen müssen oder der Impuls zu schreien in ihnen aufsteigt. Beides ist in Ordnung, weil es körperliche Wege sind, um den inneren Druck zu regulieren.

Trost für Dich, Trost für Dein Kind

Wenn die Mama in einem anderen Zimmer ist, kann sie dort ihre Gefühle besser versorgen. Sie kann weinen und sich zugleich Trost zusprechen. Manchmal hilft es, ein großes Kissen zu umarmen und sich beim Weinen hin- und herzuwiegen. Wenn der Impuls zu schreien da ist, kann das Kissen den Schrei in sich aufnehmen. Ein Kissen kann man auch gefahrlos auf den Boden auf den Boden werfen, mit aller Kraft. Dabei geht Spannung aus dem Körper der Frau, und es kann sich Erleichterung einstellen.

Sobald es der Mutter besser geht, ist es Zeit, wieder Kontakt zum Kind aufzunehmen. Vermutlich wird das Kind ebenfalls weinen, vielleicht wird es die Arme nach der Mama ausstrecken. Wie gut es tut, von Mama getröstet zu werden! Wie wichtig es ist, als Mutter selbst Raum für die eigenen Gefühle zu haben und sich selbst Trost zu schenken!

Happy End ist, wenn....

Wie geht der Film auf Deiner inneren Leinwand nun weiter? Kannst Du Dir ein schönes Ende für Mama und Kind ausdenken? Wie geht es Dir beim Zusehen? Du weißt ja, bei guten Kinofilmen braucht man schon mal ein Taschentuch als Zuschauer*in. Das ist okay und ein Zeichen dafür, das der Film Dich berührt hat. Ich wünsche Dir, dass Du Deine Gefühle als Zeichen dafür sehen darfst, dass es um etwas Wichtiges geht. Du darfst emotional sein. Und wer weiß, vielleicht stellst Du Dir dann die Frage vom Anfang nochmal neu: „Wie kann ich gut für meine Gefühle sorgen?“ statt „Wie kann ich konsequenter sein?“ könnte dann im Nachspann über die Leinwand flimmern. Dann wäre es ein wirklich guter Film, finde ich. Was meinst Du?